Inferno nach Ansage – Brand im Lager Moria

wir veröffentlichen hier einen Beitrag der Süddeutschen Zeitung vom 10.09.2020:

Inferno nach Ansage

Von Tobias Zick

Es gab schon vor dem Feuer einige Gründe dafür, Moria als „Hölle“ zu bezeichnen. Dann kamen die Flammen, die die Ansammlung von eng gedrängten Flüchtlingszelten vollends in ein Inferno verwandelten. Das seit Langem überfüllte Camp auf der Ägäis-Insel Lesbos, das größte Flüchtlingslager in der EU, Sinnbild für Europas Scheitern im Umgang mit Asylsuchenden, ist in der Nacht auf Mittwoch zu großen Teilen abgebrannt. Bilder und Videos, die Augenzeugen über soziale Medien verbreiten, zeigen lichterloh brennende Zelte, verkohlte Trümmer, fliehende Menschen mit Bündeln und Kinderwagen.

Einige der Zelte seien offenbar vom Feuer verschont geblieben, sagte ein Anwohner am Morgen der BBC, das Camp sei „vollständig zerstört“, sagte dagegen der Vizegouverneur von Lesbos einem griechischen Radiosender. Der Bürgermeister der Inselhauptstadt Mytilini ergänzte, es sei eine „sehr schwierige Lage“, da einige derer, die jetzt vor den Flammen in umliegende Felder und Dörfer geflüchtet seien, „positiv“ seien – also mit dem Coronavirus infiziert. Die Regierung in Athen verhängte einen viertägigen Ausnahmezustand über die Inseln.

Todesopfer durch den Brand gab es nach offiziellen Angaben vom Mittwoch keine, einige der Geflüchteten litten jedoch unter Rauchvergiftungen. Wo die etwa 13 000 Menschen, die in dem ursprünglich für knapp 3000 ausgelegten Camp lebten, nun unterkommen sollen, wie sie an Trinkwasser, Nahrung und medizinische Versorgung kommen: alles große, dringende Fragezeichen.

Nach Angaben der Feuerwehr waren die Brände an drei oder mehr verschiedenen Stellen ausgebrochen – das spricht dafür, dass die Feuer absichtlich gelegt wurden. Von wem, ist bislang unklar: von Insassen des Lagers selbst, die, wie der lokale Feuerwehrchef in einem Fernsehinterview sagte, dann auch noch die Einsatzkräfte am Löschen gehindert hätten? Oder von Einheimischen der Insel, die zuvor immer wieder gegen die Anwesenheit der Flüchtlinge protestiert hatten – mitunter gewaltsam, wie etwa Anfang März, als Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Journalisten und Migranten selbst körperlich attackiert wurden?

Dass am Mittwochabend ein neues Feuer ausbrach in Moria, in einem Teil des Lagers, der zuvor verschont geblieben war, machte die Lage noch undurchsichtiger.

Mögliche Motive gibt es viele. Frust, Wut und Verzweiflung sind unter den Bewohnern des Lagers gewaltig – und sie sind vergangene Woche noch weiter gewachsen, nachdem der erste Covid-Infektionsfall in Moria bestätigt wurde. Die Behörden stellten das gesamte Lager unter Quarantäne – die ohnehin seit Monaten geltenden Ausgangsbeschränkungen wurden noch weiter verschärft, viele Bewohner fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen, dem Virus ausgeliefert. An Mundschutzmasken, Desinfektionsmitteln und Tests mangelt es seit Langem. Ebenso an Platz, um den zum Schutz vor Ansteckung gebotenen Abstand einzuhalten.

Das Virus kam mutmaßlich im Körper eines 40-jährigen Somaliers nach Moria, der vergangene Woche positiv getestet wurde. Der Mann hatte bereits im Juni seinen Status als anerkannter Flüchtling erhalten, war dann nach Athen gereist, wo er offenbar keine Unterkunft fand – und deshalb nach Lesbos zurückkam, in das „Dschungel“ genannte Areal in den Olivenhainen rings um den offiziellen, abgezäunten Bereich des Lagers. Der Fall bestätigt insofern die Kritik diverser Hilfsorganisationen an Athens Flüchtlingspolitik.

Zwar hat die Regierung sichtlich Anstrengungen unternommen, die überfüllten Lager auf Lesbos und anderen Inseln zu entlasten. Im März vegetierten in Moria noch etwa 20 000 Menschen, zuletzt waren es 7000 weniger. Hintergrund sind auch die inzwischen beschleunigten Asylverfahren. Doch Kritiker bemängeln seit Langem, dass die anerkannten Flüchtlinge zu wenig Unterstützung bei der Suche nach Unterkunft und Arbeit erhielten – viele von ihnen versammelten sich deshalb an Orten wie dem Viktoria-Platz in Athen, um dort zu kampieren. Der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) zufolge waren darunter auch Schwangere, chronisch Kranke und psychisch Traumatisierte. Dass nun also jemand, der offiziell die Erlaubnis hatte, das Lager auf Lesbos zu verlassen, nach einiger Zeit in der Hauptstadt freiwillig in den „Dschungel“ von Moria zurückgekehrt ist, spricht nach Ansicht von Kritikern Bände über die Zustände auf den Straßen von Athen. Und der Fall des 40-jährigen Mannes aus Somalia, der dort als Corona-Infizierter angekommen ist, bestätigt auf bittere Weise die Warnungen von MSF vor zwei Monaten: „Inmitten einer globalen Pandemie sollten Regierungen Menschen, die unter einem hohen Covid-19-Risiko stehen, schützen, statt sie hinaus auf die Straße zu werfen“, hatte eine leitende Mitarbeiterin der Organisation erklärt.

Am Dienstag waren es dann bereits 35 offiziell bestätigte Corona-Infektionen in Moria. Nachdem die Behörden daraufhin anordneten, die Infizierten und deren Kontaktpersonen zu isolieren, brachen Berichten zufolge Proteste los.

Griechenlands Premierminister Kyriakos Mitsotakis machte in einer Fernsehansprache am Mittwoch klar, wo er die Brandstifter vermutet. Es könne „keine Ausreden geben für gewalttätige Reaktionen aufgrund von Gesundheitskontrollen“, sagte er und verwies auf Berichte der Feuerwehr, wonach Migranten versucht hätten, die Feuerwehr am Löschen der Brände zu hindern. Zugleich appellierte Mitsotakis an die anderen EU-Staaten, die mitverantwortlich dafür seien, die Notlage zu lösen: „Es ist ein Thema der öffentlichen Gesundheit, des Humanismus, aber auch der nationalen Sicherheit“, sagte er. Man werde jene, die vor dem Feuer geflüchtet seien, daran hindern, die Insel zu verlassen, fügte der Regierungschef hinzu; aber auch die einheimische Bevölkerung müsse mit Einschränkungen rechnen, damit sich das Virus nun nicht weiter verbreite.

Auch außerhalb des Lagers liegen auf Lesbos seit Längerem die Nerven blank – nicht zuletzt, weil schon vor dem Ausbruch im Flüchtlingscamp die Corona-Ansteckungszahlen unter Einheimischen zugenommen hatten. Flüchtlingshelfer hatten bereits vor längerer Zeit gewarnt, ein Covid-Ausbruch in Moria könnte den Volkszorn auf Lesbos zum Überkochen bringen.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) erklärte am Mittwoch, man habe bereits vor den Bränden „Spannungen“ zwischen Migranten und Anwohnern umliegender Gemeinden registriert. Die Organisation rief alle Beteiligten zur „Zurückhaltung“ auf. Jene, die vor den Bränden geflohen seien, müssten „ihre Bewegungen beschränken“ und in der Nähe des Camps bleiben; man arbeite an einer „vorübergehenden Lösung“, um ihnen einen Unterschlupf zu verschaffen.

Die gewaltsamen Ausschreitungen gegen Migranten, humanitäre Helfer und Journalisten Anfang März waren nicht zuletzt von den Ankündigungen der Athener Regierung befeuert worden, auf Lesbos und anderen Inseln neue, geschlossene Lager für Migranten zu errichten. Viele Inselbewohner sahen in den Plänen ein Szenario, in dem ihre Inseln dauerhaft zum Abladeplatz für Europas Flüchtlingsproblem ausgebaut würden. Humanitäre Helfer dagegen kritisierten die Pläne aus anderen Gründen. Sie fürchten, solche geschlossenen Aufnahmezentren würden de facto als „Freiluftgefängnisse“ fungieren.

Ausgerechnet Anfang dieser Woche, vor den Bränden, hatte die Regierung in Athen die umstrittenen Pläne erneut zum Thema gemacht. Der Corona-Ausbruch in Moria unterstreiche die Notwendigkeit „geschlossener und kontrollierter“ Strukturen, hatte der Minister für Migration, Notis Mitarakis, erklärt – und damit einen Aufschrei mehrerer Hilfsorganisationen hervorgerufen. Sein Stellvertreter Giorgos Koumoutsakos erwiderte darauf: „Wir sind ein demokratisches Land – wir bauen keine Gefängnisse.“ Man beabsichtige durchaus, den Insassen das Verlassen der neuartigen Lager zu bestimmten Zeiten zu erlauben. Wie viele Stunden pro Tag, das müsse man noch entscheiden.

Nach der Brandkatastrophe auf Lesbos räumte Koumoutsakos ein, man habe es jetzt mit einer „beispiellosen humanitären Krise zu tun“. Man werde sich bemühen, schnellstmöglich sichere Unterkünfte für besonders verwundbare Personen zu finden, sagte er am Mittwochnachmittag. Zunächst werde man 408 unbegleitete Minderjährige aufs Festland überführen.

Eine Vielzahl von Hilfsorganisationen äußerte am Mittwoch massive Kritik an den Zuständen in Moria. Eine Mitarbeiterin der Gemeinschaft Sant’Egidio nannte die Brandkatastrophe eine „Katastrophe mit Ansage“. Derzeit könne man weder Lebensmittel noch Kleidung zu den Betroffenen bringen, da die Sicherheitskräfte das Areal um Moria abgeriegelt hätten.

Ramona Lenz, Referentin bei Medico International, wurde noch deutlicher: Man könne „Menschen nicht jahrelang im Dreck leben lassen, ihnen Rechte vorenthalten, sie schließlich ungeschützt einer Pandemie aussetzen und dann überrascht sein, wenn sie gegen ihre Lebensbedingungen aufbegehren“.

 

Moria

Moria auf Lesbos ist mit fast 13 000 Bewohnern das größte Flüchtlingslager in Griechenland und der EU. Es wurde 2015 errichtet, als Teil der „Hotspots“, in denen Migranten registriert und überprüft werden, um nach Beurteilung ihres Asylantrags gegebenenfalls in der EU verteilt zu werden. Offiziell hat Moria Platz für 2800 Menschen. Entsprechend beengt ist das Leben, viele Bewohner haben kein fließendes Wasser in der Nähe. Im offiziellen Teil des Lagers gibt es Wohncontainer, aber die meisten leben in Zelten ohne Stromanschluss, wo es extrem heiß ist im Sommer und kalt im Winter. Helfer beklagen seit Jahren die Zustände in dem Lager. Bei Protesten kam es mehrmals zu Bränden und Gewalt. Wegen seiner Nähe zur Türkei ist die Touristeninsel Lesbos ein bevorzugtes Ziel von Booten mit Migranten. SZ

Tobias Zick

Tobias Zick, außenpolitischer Redakteur, war Teil des Investigativ-Teams, das die „Paradise Papers“ aufbereitet hat. Zuvor war er vier Jahre lang Korrespondent der SZ in Afrika. Nach seiner Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule hatte er den Journalistenverbund Plan 17 mitgegründet, als freier Journalist in Genua gelebt und für Magazine wie Stern, Geo, Neon, Brand Eins, Mare, Dummy u.a. geschrieben. Für sein Buch „Heimatkunde“ erkundete er Deutschland zu Fuß. Er war Redakteur bei Neon, freier Textchef und Kolumnist bei Natur, Seminarleiter und Dozent für Reportage/Magazingeschichte sowie Vorstandsmitglied der Freischreiber. Stipendiat des Netzwerks Recherche (2006), IJP-Stipendiat in Kairo (2010), Träger des EU Health Prize for Journalists (2013).